vernissageeinführung

„das lebendige im toten“

michael hager, 2011

Liebe Vernissagegäste, lieber Matthias,

ich habe das große Vergnügen und die Ehre, Sie heute Abend tiefer in die hier ausgestellten Schätze einführen zu dürfen und ich lade Sie ein, mit mir auf eine Reise zu gehen, in die Innenwelten der Bilder von Matthias Bosshard einzutauchen und sich so einzustimmen und einzuschwingen .

In Matthias‘ Atelier gibt es ein wunderbares Sammelsurium von Seltsamkeiten. Alles sorgfältig verpackt in beschriftete Schachteln und Kisten oder aufgereiht in Regalen: südamerikanische Baumsamen und Fruchtkapseln, rostige Spiralen und Metallfedern, alte Ketten, Rädchen und Räder, alte Werkzeugteile von Spaten und Mistgabeln, Ringe und Unterlagscheiben in allen Größen. Unterschiedliche Schwemmhölzer, gesammelt am Bodensee und am Mittelmeer und sorgfältig sortiert: gesägte, angebrannte, gespaltene, rechteckige, spitze, runde, verästelte. Überreste von Tieren: Rattenschädel, sogar Kamelschädel, mitgebracht aus einer Wüstenwanderung in Marokko und – aus derselben Quelle – getrockneten Kamelkot. Wunderbar auch die Sammlung von alten, verwitterten Blechbüchsen, heimgetragen von Reisen nach Mittelamerika. Sie wurden auf den großen Überlandstraßen von Lastwagen oder Autos überrollt und plattgedrückt. Ich drehe eine um und sehe auf der Rückseite ein Eitkett mit Fundort und Datum. Wie bei einer Sammlung edler Mineralien.

Alles nach ökonomischen Maßstäben nichts wert. Aber für Matthias Bosshard wertvolle Schätze, über die er mit leuchtenden Augen spricht:

„Die schönste Blechbüchse, die ich gesehen hab, von Vierzigtonnern plattgefahren auf der Panamerikana, hab ich 1993 in Costa Rica liegen lassen, weil sie so groß war. Es reut mich heut‘ noch.“ Er zeigt eine Schachtel voll rostiger Nägel: „Da wurde eine alte Scheune verbrannt in Leymen. Da bin ich hin und hab mit einem Magneten die übriggebliebenen rostigen Nägel aus der Asche geholt.“ Oder das große, rostige, verbeulte Fass, das ihm im Urlaub auf einer Insel südlich von Rom aus dem Meer entgegengeschwemmt wird. Die Familie ist mit Säugling unterwegs, per Bahn. Matthias fand einen Mann aus St. Gallen, der trotz zweier Kinder und Schwiegermutter im Auto das Fass mit nach St. Gallen nahm. Zwischengelagert bei der Schwiegermutter kam es schließlich nach Rodersdorf in Matthias‘ Atelier. Matthias sagte: „Der Mann war auch ein bisschen verrückt. Der hatte zu Hause Sockelleisten aus rostigem Eisen angebracht. Der hat mich verstanden.“

Oder die Kamelkot-Bölleli, die wie Schokoladeostereier von Lindt und Sprüngli in einem Styroporschächtelchen liegen: „Weißt Du, Kamele sind gute Verwerter, der Feuchtigkeitsanteil im Kot ist minimal, der stinkt nicht, der ist furztrocken und ist wunderschön, so eine tolle Form.“

Neulich hast Du im Scherz gesagt: „Ich hab Bammel vor Deiner Rede, Du weißt zu viel, wenn Du das alles weiter erzählst, dann denken die alle, der Typ hat ne Macke.“ Natürlich hast Du eine Macke und ich gratuliere Dir herzlich dazu. Denn Deine Macke hat Wert und Sinn. Du siehst das Lebendige im Toten. Du zeigst mir ein Stück Schwemmholz und sagst:

„Schau, es ist ausgelaugt vom langen Weg. Es hat etwas mitgemacht, es hat die Zeit im Wasser unter alle den Hölzern hinter sich. Es hat etwas Grobes hinter sich, alles, was nicht gut hält, wurde abgerieben. Es ist verletzt. Es ist ganz fein und dünn, es ist sinnlich, leicht wie Knochen. Solche knöchleinartigen sind rar. Ich hab sie im Rucksack transportiert, dass sie nicht brechen.“

Wie liebevoll er darüber spricht! Ich wiederhole gerne etwas, was ich ähnlich in der Galerie im St. Alban-Viertel gesagt hatte:

Wenn ich ein Schwemmholz wäre (und abgerieben und fein und verletzlich sind wir ja alle) oder ein rostiger Nagel aus einer abgebrannten Scheune oder eine überfahrene leergetrunkene Getränkedose oder ein Bollen Kamelkot, ich würde mich gerne von Dir finden und heim tragen lassen. Ich würde mich gerne von Dir sorgsam und liebevoll anschauen lassen, damit Du im Gezeichneten und Geschredderten, im Verwitterten und Zerknitterten meine Geschichte, mein Wesen und meine Schönheit erkennst. Und du würdest dich von dem, was Du in mir siehst, inspirieren lassen und mir einen ganz neuen Platz geben.

So wie die alte gelbe Öldose. Du sagst: „Die Büchse ist ziemlich mürb – zerstört und ‚in dem inne‘ schön.“ Auf dem Objekt „slow boat to China“, das ist eine Art Fähre ins Jenseits, wird die Öldose zum Segel des Schiffes.

Ich tote, überfahrene Öldose werde zum Antrieb eines mystischen Bootes, das ins Geheimnisvolle unterwegs ist. Was für eine Wandlung! Wie kommt es zu dieser Wandlung?

Du hast mal beiläufig gesagt: „Es stehen Sachen im Atelier, die, wenn ich reinkomme, mich anschauen.“

Ich bin die Öldose. Ich stehe im Atelier. Du kommst rein und Du schaust mich an. Und jetzt schau ich Dich an. Du lässt Dich von mir anschauen. Du lässt mich in Dich hineinschauen. Wir begegnen einander. Wir erkennen einander und wir beide staunen darüber, dass wir beide unterwegs sind zwischen Geburt und Tod und ich bin das Segel und Du bist das Boot.

Das erinnert mich an eine Stelle aus dem wunderbaren Buch „Zeit für Liebe“( Köln 2002 ³, S. 75), die mich sehr beeindruckt hat:

„(…) schau einen Baum an. Nicht nur oberflächlich, schau ihn wirklich an. Schau, was für schöne, grüne Blätter er hat, wie lebendig er ist. Und dann schließ die Augen und entspann Dich ein bisschen. Dann öffnest du sie wieder und stellst dir vor, dass nicht mehr du es bist, die den Baum anschaut, sondern dass der Baum dich anschaut. Lade ihn durch deine Augen ein. Schau einmal, wie tief du diese grüne Lebendigkeit in dich eindringen lassen kannst. (…) Erlaube dir, von der Natur gesehen zu werden, und lass sie in dich eindringen. Nimm wahr, wie dies (…) dein Gefühl verstärkt, mit der gesamten übrigen Welt verbunden zu sein.“

Vielleicht ist das der tiefere Sinn der Innigkeit mit der Öldose oder mit dem Kamelbölleli. Du lässt Dich von ihm anschauen und in Dich hineinschauen und erkennst, dass Du ihm zutiefst verbunden bist, dass ihr den gleichen Atem des Universums atmet und eins seid.

Du hast die Ausstellung „Kultkult: Das Lebendige im Toten“ genannt. Ich habe Dich gefragt, was für Dich Spirituelle Kunst sei.
Du sagtest, es sei „Kunst, die keine egomanische Geste hat, über sich selbst hinausweist, in die Stille weist, in die Achtsamkeit, in die Demut, in die Innigkeit.“
Darauf richtest Du Dich aus, wenn Du ins Atelier gehst, und beginnst die Arbeit mit einer kleinen Übung. Und manchmal erlebst Du Dich dann als still und vertieft und im Fluss, Du erlebst eine spirituelle Dimension anwesend beim Schaffen und erlebst im Spüren, dass Du weißt, was zu tun ist. Du spürst dann auch, ob ein Prozess abgeschlossen ist oder ob Du auf den richtigen Zeitpunkt noch warten musst, manchmal über Jahre hinweg. Du bist kein Pfuscher, sondern gehst mit dem Material und dem Thema schwanger und brütest das, was im Entstehen ist sorgfältig aus. Und so entstehet immer wieder ein stimmiges Werk, das eine besondere Wirkung entfalten kann, nämlich die, dass die Innigkeit, die Du erlebt hast, auch für andere spürbar wird und dass, wie Du formuliertest, „der Betrachter in die eigene Innigkeit kommt.“

Dann ist der Betrachter berührt und die Öldose ist das Segel, Du bist das Boot und der Betrachter der Mast und alle drei sind unterwegs ins Unbekannte.

Matthias, nicht alle Deiner Objekte berühren mich, aber einige sprechen wirklich innig mit mir und schauen mich an. Ich freue mich sehr, dass es im Lauf der Jahre mehr werden und ich denke, darin drückt sich auch aus, dass Du über die Jahre näher an Deine eigene Innigkeit kommst. Daran Anteil haben auch schwere Erfahrungen, vor allem Deine eigene Todesnähe nach Deinem lebensbedrohlichen Unfall. Aber auch die Entwicklungswege, die Du gehst und auch die, die Deine Frau geht, haben daran fruchtbaren Anteil.

Ich möchte abschließend gerne noch den Blick auf eine Bilderserie richten, die mir besonders gut gefällt.

2007 kam ein britischer Film in die Kinos. Er hieß „Das Wunderkind – my kid could paint that.“ Es war ein Film über Marla Olstead. Mit mehr oder weniger pinselführender Unterstützung des Vaters, der Maler war, malte sie als kleines Kind abstrakte Bilder, die an Jackson Pollock erinnern. Der Vater organisierte erste Ausstellungen mit den Bildern der Vierjährigen und diese wurden dann in New York mit bis zu 300.000 Dollar gehandelt.
Da ist die ganze Innigkeit weg und es wird einem eng.
Matthias macht es nun andersherum. Er sagt:

„Ich hab den Kindern beim Malen zugeschaut, wie sie’s machen. Vor allem zwischen 4 und 6. Es gab wenig, was ich wirklich toll fand, aber es waren einige ganz beeindruckende Sachen dabei. Die hab ich dann übernommen. Anatol hat mir mal ein paar Flecken gezeichnet, davon habe ich einen in ein Bild übernommen, die anderen Flecken habe ich selber erfunden.
Anatol hat sich sehr geehrt gefühlt und neue Zeichnungen abgegeben, die ich dann auch malen sollte.“

Auf diese Weise hat Matthias von allen Kindern Elemente aus Kinderzeichnungen vergrößert und damit gespielt und es sind für mein Empfinden wunderschöne Bilder herausgekommen. Kindlich, lebendig, aber auch archaisch und kultisch wirkend, manche mit Assoziationen zu Höhlenzeichnungen.

Die Originalvorlagen sind zum Vergleich oder als Quellenangabe an einer der Wände mit ausgestellt.

Jetzt wünsche ich viel Freude, wenn Sie in der Schatzkammer herumgehen und sich von den Objekten anschauen lassen.

Vielen Dank für Ihr Ohr!

holz-metall-bündel

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